Verfasser, Autor und Copyright: Hans-Gerd Coldewey

 

Hilgenriedersiel - sein früheres Siel und früherer Verkehrsknotenpunkt als Postkutschenstation nach Norderney

Hilgenriedersiel liegt im Norden der Gemeinde Hagermarsch, die zur Samtgemeinde Hage gehört. Der Ort hatte früher ein Siel und ein Außentief, das in den Wattstrom Hilgenriede mündete, dem westlichen Ausläufer des Baltrumer Seegats Wichter Ee.

Noch im 16. und 17. Jahrhundert boten sich gute Vorflutbedingungen. Die Deichlinie wurde in den Jahren 1570/76 von der ursprünglich seit 1300 in Höhe der heutigen Küstenstraße, der Landestraße 5, bestehenden Deichlinie vorverlegt. Mit dem Deichbau musste auch ein neues Siel den Wasserabfluss aus dem Hilgenrieder Zugschloot gewährleisten.

Das Hilgenrieder Siel dürfte demnach seit 1576 bestanden haben. 1866 wurde das Holzsiel, dessen Entwässergebiet der Hilgenriedersielacht im Westen beim Roten Pfahl in der Ostermarsch begann, durch ein steinernes, gewölbtes Siel ersetzt.

Mit der Ostverlagerung des Seegats bildete sich die Hilgenriede zurück. Das Hilgenriedersieler Außentief verlandete und konnte keine ausreichende Vorflut mehr bieten. Das Siel wurde schließlich im Jahr 1925 abgebaut. Die Vorflut wurde an das Norder Tief angeschlossen, das zur Leybucht entwässert.

In Höhe des früheren Siels steht ein Gedenkstein auf der Deichkrone, wie das folgende Bild zeigt:

Hilgenriedersiel als bedeutender Verkehrsknotenpunkt im 19. Jahrhundert für den Postweg nach Norderney.

 

Im Zuge der morphologischen Veränderungen nahm die Watthöhe nördlich Hilgenriedersiel weiter zu, so dass es sich anbot, eine Landverbindung über das Watt zwischen Hilgenriedersiel und dem im Jahr 1797 gegründeten Seebad Norderney aufzubauen.

So wurde ein Fahrweg für Postkutschen östlich des Außentiefs angelegt, der auf kürzester Entfernung übers Watt zur Insel Norderney führte. Die Orientierung gab auf Norderney eine Postbake, die heute noch besteht.

Die genaue Lage des Postweges ist im folgenden Kartenausschnitt aus der Königlich Preussischen Landesaufnahme von 1891 eingetragen und wird als "Fahrweg nach Norderney bezeichnet." Auf Teilstrecken, insbesondere im Bereich des Deichvorlandes vor Hilgenriedersiel, war der Postweg mit Ziegelsteinschutt befestigt. Der Weg ist infolge Sedimentüberdeckung nicht mehr im Gelände erkennbar. Beim Ausbau des Sommerdeiches im Jahr 1985 kam eine Teilstrecke des Weges zum Vorschein.

Weil das Betreten der östlich des früheren Außentiefs ausgewiesenen Schutzzone I des Nationalparks Wattenmeer nicht gestattet ist, sollte niemand auf die Idee kommen, in Höhe des früheren Fahrweges ins Watt zu laufen, schon gar nicht ohne Wattführer.

In die Karte eingetragen ist auch die Lage der heutigen naturgelassenen Badestelle, die einzigartig ist an der Küste.

Die vor Hilgenriedersiel eingezeichnete Deichlinie besteht seit 1570/76.
1981 bis 1984 wurde die neue Hauptdeichlinie in Höhe der davor liegenden Polderdeiche, die 1709 bis 1712 (Lütetsburger Polderdeiche - westlich Hilgenriedersiel) und 1772 (Westerneßmersieler Polderdeich - östlich Hilgenriedersiel) errichtet wurden, ausgebaut.

Viele Reisende und auch die Wattenpost fuhren mit Kutschen über Hilgenriedersiel auf dem Wattenfahrweg nach Norderney. Die Kutschen hatten besonders breite Reifen, damit sie nicht im weicherem Wattboden versanken.

Das folgende Bild (etwa aus dem Jahr 1930) zeigt Hinrich Dinkla, Norderney, mit seiner Kutsche auf dem Wattweg vor Norderney (Bild Familie Diepen). Am Horizont ist das Festland mit seinem Baumbestand erkennbar.

Die Pferde haben keine Scheu, die Kutsche durchs Wasser zu ziehen, das schon relativ hoch angestiegen ist.

Die Fahrt übers Watt war nicht ungefährlich und erforderte besondere Kenntnisse des Wattzustands und der Tidewasserstände.

Seit 1844 verkehrt eine Watt-Postkutsche nach festem Fahrplan zwischen Hilgenriedersiel und Norderney.

Das Norderneyer Stadtarchiv verfügt noch über frühere Fahrpläne, wie zum Beispiel:
"Königlich Hannoversches Bade-Commissarisches Bade-Commissariat" für Norderney v. Bock-Wülfingen mit der Überschrift Seebad Norderney - Kurzeit 1863 - Uebersicht der Communicationsmittel zwischen der Insel und dem Festland. Hierin enthalten sind die Abfahrtszeiten von 4 Dampfschiffverbindungen (Bremer Dampfschiff "Roland" Geestemünde-Norderney; Emdener Dampfschiff "Kronprinzessin Marie" Emden-Norderney; Leerer Dampfschiff "Kronprinz von Hannover" Leer-Emden-Norderney; Fähr-Packetschiff Norddeich-Noderney) und die "Fahrpost von Hilgenriedersiel durch das Seewatt in 1 1/2 Stunde nach Norderney" in den Monaten Juli bis September, wobei mitgeteilt wird, dass die Abfahrt von Norderney 1 Stunde früher ist als von Hilgenriedersiel.

Für die "Kurzeit 1865" wird die "Abfahrzeit für die Wagen von Hilgenriedersiel bei niedriger Ebbe durch das Seewatt in 1 1/2 Stunden nach Norderney" vom 15. Juni bis 30. September angegeben. "Die regelmäßige Fahrpost führt vom 1. Juli an täglich einmal über Hilgenriedersiel resp. nach und von Norden (3 Stunden)." Für die Fahrt von Hilgenriedersiel nach Norden wurden demnach 3 Stunden gebraucht.

Dann gab es noch den "Postanzeiger der Königlich Hannoverschen Post-Spedition Norderney z.B. vom "Sommer 1863". Hierin werden in den ersten Spalten die Abfahrtzeiten der "Personenpost nach und von Norden über Hage" in den Monaten Juli bis September mitgeteilt. Die Transportdauer dieser Personenpost Norden-Hage/Hilgenriedersiel-Norderney wird mit 3 1/2 bis 4 Stunden angegeben.


Vor der Überfahrt nach Norderney, die nur zur Ebbezeit stattfinden konnte, wurde häufig im Gasthaus in Hilgenriedersiel eingekehrt. Das Gasthaus, das an ein landwirtschaftliches Gebäude angegliedert war, bot auch Platz für Gästezimmer, so dass hier auch übernachtet werden konnte.
Für die Pferde stand ein Pferdestall in einem Nebengebäude (direkt am Deich) zur Verfügung.

Viele Persönlichkeiten machten auf ihren Weg nach Norderney Station in Hilgenriedersiel.

So schreibt Ella Ippen in einem Bericht des Kurier vom 19/20.8.1989, dass Herzog von Cumberland im Jahr 1836 ins Gasthaus einkehrte. Die Chronik Norderney berichtet im Zusammenhang mit der Einrichtung des regelmäßigen Postkutschenverkehrs vom erstmaligen Besuch des späteren Reichskanzlers Otto von Bismarck im Jahr 1844, der regelmäßiger Kurgast auf Norderney wurde - bis 1855.

Vom 9. September 1844 gibt es eine Notiz von Bismark, die das Badeleben auf Norderney im Conversationshaus und am Strand beschreibt (Ostfriesischer Kurier 2.8.2008).
Dem ersten deutschen Reichskanzler hat offenbar nicht nur das Reizklima gut gefallen: "Hier liege ich", schrieb er, "vor aller Welt verborgen; ich blicke auf die schäumende See hinaus - und davor auf eines der hinreißendsten Weibsbilder".

Ältere Hilgenriedersieler haben von Erzählungen ihrer Großeltern berichtet, dass sie als Kinder die Mode der Reisenden, die in Hilgeriedersiel eine Pause auf dem Weg nach Norderney einlegten, bewundert haben.

Über 3 Generationen betrieb Familie Poppinga die Gastwirtschaft, die durch eine Bäckerei und einen Kolonialwarenhandel ergänzt wurde. Das Haus verfügte im Obergeschoß auch über einen Tanzsaal. In der Blütezeit des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts machten viele Gäste mit ihren Kutschen Ausfahrten nach Hilgenriedersiel, um dort zu verweilen.

Norderneyer Ansichtskarte von 1840

Dieses Norderney war das Ziel der Reisenden mit der Kutsche.
Die Kutschen sind auf dem unteren Fahrweg eingezeichnet.

Der Inselverkehr verlagerte sich dann zunehmend auf die Schifffahrt, die von Norddeich ausging.
Den regelmäßigen Inselverkehr übernahmen zunächst Dampfschiffe. Folgendes Bild einer Postkarte mit Foto aus dem Jahr 1909 zeigt den Raddampfer "Norddeich" bei seiner Fahrt nach Norderney. Im Hintergrund sind die Inseldünen erkennbar.

Die regelmäßige Personenbeförderung der Wattenpost wurde bereits 1873 zurückgestellt, nachdem eine Kutsche bei der Überfahrt wegen zu hoher Tidewasserstände umkehren musste und dabei ein Rad brach. Die 5 Reisenden und Kutscher und Wattführer erreichten Hilgenriedersiel nur unter großen Mühen zu Fuß. Der Kutsche konnte erst nach 2 weiteren Tiden geborgen werden. Seit diesen Vorfall war der Postdienst nicht mehr bereit, das Transportrisiko für Personen zu übernehmen.

Als letztes Betriebsjahr der Postktuschenverkehrs von Hilgenriedersiel nach Norderney wird das Jahr 1892 genannt.

Wenn das Watt zugefroren und kein Schiffsverkehr möglich war, entwickelte sich ein reger Landverkehr über den früher regelmäßig genutzten Wattweg. So fuhren auch PKW übers Watt, wie das Foto von Anna Schmidt, geb. Schmeding, aus dem Jahr 1929 zeigt. Abgebildet sind von links die Herren Reinemann (aus Emden) sowie Lottmann und Schmeding (Hilgenriedersiel).

Erst im Jahr 1949 (Chronik Norderney) wird der Postlinienverkehr über das Watt ganz eingestellt, nachdem der Schiffsverkehr über Norddeich auch die regelmäßige Postbeförderung übernehmen konnte.

Hilgenriedersiel nach der Postkutschenzeit

In den 20iger Jahren wurde die Gaststätte als Privatmolkerei genutzt, die im Jahr 1937 zu Genossenschaftsmolkerei erweitert wurde. Die Konzentration auf größere Molkereieinheiten führte im Jahr 1968 zur Auflösung der Molkereigenossenschaft. Danach wurde das Gebäude als Futtermittelhandel genutzt. Auch Feriengäste wurden aufgenommen. Auf der anderen Straßenseite hat der Küstenschutz mit seiner Öl- und Schadstoffunfallbekämpfung einen großen Betriebshof.

Das Bild (Postkarte) zeigt im Vordergrund das Molkereigebäude mit Schornstein (,der in verkürzter Länge heute noch besteht). Das rechte Teil des querstehenden Gebäudes am Deich wurde früher als Pferdestall für den Postkutschenverkehr genutzt.

Die abgebildete Deichlinie besteht seit 1570/76. Seit 1985 ist sie 2. Deichlinie. Die etwa 400 m weiter seewärts liegenden Polderdeiche wurde zum Hauptdeich ausgebaut (siehe oben).

Nördlich des Hauptdeiches führt ein Fußweg nach Westen und dann nach Norden parallel zum früheren Hilgenriedersieler Außentief zu einer naturbelassenen Badestelle, die einzigartig ist an der ostfriesischen Nordseeküste.

Hier kann man die Natur auf der Salzwiese und im Watt unmittelbar erleben. Ein Geheimtipp für Einheimische und Gäste!

Ein Bild vom Deichvorland in Höhe der Lage des früheren Postweges.

Danksagung:
Anna Schmidt, die in Hilgenriedersiel aufgewachsen ist, gab mit ihren Erzählungen und der Bereitstellung von Bildern die Anregung für diese Dokumentation.